Begleitsymptome
Gibt man Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen die Möglichkeit, die Gesamtheit ihrer Beschwerden zu berichten, bzw. erhebt man eine systematische Anamnese (z.B. durch Abfragen aller Organsysteme und des Vegetativums, oder durch Fragebögen), stellt man fest, dass die neurologischen Symptome oft von anderen belastenden Körperbeschwerden begleitet werden. In einer aktuellen Online-Umfrage berichteten 97% der Betroffenen über weitere Beschwerden. Teilweise empfinden sie diese Begleitbeschwerden sogar als belastender als ihre neurologische Symptomatik.
- Rund zwei Drittel von FNS-Betroffenen berichten über chronische Schmerzen unterschiedlichster Lokalisationen, z.B. Migräne, Spannungskopfschmerz, Kieferschmerzen, Rückenschmerzen, Gelenkschmerze, Fibromyalgie, Komplexes Regionales Schmerzsyndrom.
- Rund zwei Drittel von FNS-Betroffenen berichten über Erschöpfung, also starke Müdigkeit, bei der keine Erholung mehr gelingt.
- Rund die Hälfte der FNS-Betroffenen berichten über Schlafstörungen, oft im Zusammenhang mit Schmerzen und/oder Erschöpfung.
- Offenbar ist bei FNS auch die Häufigkeit von anderen vegetativen Beschwerden wie Verdauungs- oder Kreislaufbeschwerden und von gesteigerter sensorischer Empfindlichkeit wie Chemikaliensensitivität und Tinnitus erhöht; hierzu gibt es allerdings weniger gute Zahlen.
Patienten mit FNS leiden häufig unter weiteren Beschwerden.
Nicht immer weisen Beschwerden auf strukturelle Schäden und Erkrankungen hin. Die Belastung durch Beschwerden korreliert sogar stärker mit psychosozialen als mit somatischen Faktoren. Sie ist im Durchschnitt größer bei niedrigerem sozioökonomischem Status und Arbeitslosigkeit, bei Einsamkeit und geringer sozialer Unterstützung sowie nach lebensgeschichtlichen Belastungen, und bei Frauen im Durchschnitt größer als bei Männern. Eine hohe allgemeine Beschwerdelast ist oft vergesellschaftet mit psychischer Belastung. All das gilt sowohl für die Bevölkerung als auch für Menschen, die einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen. Tatsächlich berichten auch viele Patienten mit FNS zusätzlich zu ihrer hohen körperlichen Beschwerdelast über Anzeichen für eine hohe psychische Belastung. Die Variabilität psychischer Beschwerden bei FNS ist aber sehr groß; es gibt auch Betroffene, die seelisch ausgeglichen oder sogar heiter sind bzw. wirken.
Liegen viele verschiedene Beschwerden aus ganz unterschiedlichen Bereichen vor, kann das darauf hinweisen, dass die Beschwerden mit der zentralnervösen Beschwerdeentstehung bzw. -verarbeitung und äußeren Lebensbedingungen zusammenhängen – genau wie die FNS selbst. Dabei ist die Trennung von „körperlichen“ und „psychischen“ Beschwerden oft eine künstliche – viele Beschwerden sind beides zugleich. Und viele Beschwerden belasten beides zugleich, Körper und Psyche, also den gesamten Organismus. Häufig vergesellschaftet sind z.B. Rückenschmerzen mit anhaltend erhöhter Anspannung und Bewegungsmangel, Herzklopfen mit Ängsten oder Schlafstörungen und Erschöpfung mit Depressionen. Besonders eng miteinander verbunden sind körperliche und psychische Belastungen in der Folge von Überforderung und (aktuellem oder nachwirkendem) Bedrohungserleben. Hier kommt es unter anderem zu vermehrter muskulärer Anspannung, überhöhter Reizbarkeit und Wachsamkeit, in der Folge zu Schlafstörungen und Schmerzen, und dann zu Erschöpfung, von der man sich wegen der Anspannung, der Schmerzen und der Überreizung aber nicht gut erholen kann.
Körperliche und psychosoziale Belastungen hängen eng zusammen.
Wenn ihre Beschwerdelast über die neurologische Symptomatik hinausgeht, bedeutet das für Betroffene einerseits, dass sie in ganz verschiedenen Funktionen und damit Lebensbereichen beeinträchtigt sind, z.B. hinsichtlich ihrer Verdauung oder ihres Durchhaltevermögens. Daher ist es wichtig, dass körperliche und psychische Zusatzbeschwerden nicht unbeachtet, nicht einseitig betrachtet und nicht unbehandelt bleiben: Weder sollte einseitig auf das neurologische Kernsymptom fokussiert werden, noch sollte für Beschwerden ein ausschließlich „psychischer“ oder ausschließlich „körperlicher“ Ursprung angenommen werden. Gerade bei längeren Verläufen kann die Frage nach einer „Ursache“ für körperliche und psychische Begleitbeschwerden oft genauso wenig beantwortet werden wie die Frage, was zuerst da war (Schwindel oder Depression? Henne oder Ei?). Behandler sollten also sowohl diagnostisch als auch therapeutisch „über den Tellerrand hinaus“ denken.
Zusätzliche Beschwerden können sehr belastend sein. Deshalb muss bei Diagnostik und Behandlung „über den Tellerrand hinaus“ gedacht werden.
Beschwerden bedürfen einer guten Anamnese, sorgfältiger körperlicher Untersuchungen und ggf. leitliniengerechter Workups, um mögliche Differenzial- und Zusatzdiagnosen zu erkennen bzw. auszuschließen.
Für die Therapie ergibt sich daraus, andere Funktionen des Organismus, wie das Vegetativum, das Sensorium oder die Psyche, die ja eng miteinander verknüpft sind, bei Bedarf mitzubehandeln. Dabei geht es einerseits darum, individuelle Stressoren zu reduzieren, andererseits darum, die Regulationsfähigkeit und Resilienz des Organismus zu stärken, also auf Stressreduktion und Stressbewältigung zu setzen.
Häufige Begleitbeschwerden
Weitere Informationen
Deutschsprachige S3-Leitlinie „Funktionelle Körperbeschwerden“ (wird derzeit erneut aktualisiert)
- Langfassung: https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-001l_S3_Funktionelle_Koerperbeschwerden_2018-11.pdf
- Kurzfassung (im Deutschen Ärzteblatt): https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-001k_S3_Funktionelle_Koerperbeschwerden_2019-08.pdf
- Patientenleitlinie, Langfassung: https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-001p1_S3_Funktionelle_Koerperbeschwerden_2020-01-abgelaufen.pdf
- Patientenleitlinie, Kurzfassung: https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-001p2_S3_Funktionelle_Koerperbeschwerden_2020-01-abgelaufen.pdf
Bodysymptoms
Webseite aus einem Forschungsverbund der Europäischen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin: www.bodysymptoms.org (im Aufbau; bisher auf Englisch; weitere Sprachen folgen)
Wenn der Körper „STOP“ sagt
Patienteninformation von einer dänischen psychosomatischen Forschungsgruppe https://funktionellelidelser.dk/fileadmin/www.funktionellelidelser.au.dk/patient_Pjecer/When_the_body_says_stop.pdf (bisher nur auf Dänisch und Englisch)
Relevante Fachartikel
Ducroizet A, Zimianti I, Golder D, Hearne K, Edwards M, Nielsen G, Coebergh J. Functional neurological disorder: Clinical manifestations and comorbidities; an online survey. J Clin Neurosci. 2023;110:116-125. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0967586823000450?via%3Dihub
Carle-Toulemonde G, Goutte J, Do-Quang-Cantagrel N, Mouchabac S, Joly C, Garcin B. Overall comorbidities in functional neurological disorder: A narrative review. Encephale. 2023; 49(4S): S24-S32. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0013700623000866?via%3Dihub
Beutel ME, Klein EM, Henning M, Werner AM, Burghardt J, Tibubos AN, Schmutzer G, Brähler E. SSomatic Symptoms in the German General Population from 1975 to 2013.
Sci Rep. 2020;10(1):1595. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6994459/pdf/41598_2020_Article_58602.pdf
Beutel ME, Wiltink J, Ghaemi Kerahrodi J, Tibubos AN, Brähler E, Schulz A, Wild P, Münzel T, Lackner K, König J, Pfeiffer N, Michal M, Henning M. Somatic symptom load in men and women from middle to high age in the Gutenberg Health Study - association with psychosocial and somatic factors. Sci Rep. 2019;9(1):4610. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6418216/pdf/41598_2019_Article_40709.pdf
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